Wie unterscheidet man „störendes“ Verhalten von psychischer Erkrankung? Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es als LehrerIn? Wo stößt die Schule an ihre Grenzen? Es gibt kein Patentrezept, sehr wohl aber mögliche Handlungsspielräume.
Wer kennt sie nicht, die Geschichten vom Struwwelpeter, vom Suppenkaspar und vom Zappelphilipp des deutschen Vorreiters der Jugendpsychiatrie Heinrich Hoffmann. Aus heutiger Sicht erscheinen sie teilweise skurril, im historischen Kontext jedoch geradezu revolutionär. Hoffmann beobachtete mit scharfem Blick, was auch heute im Schulwesen häufig zum Thema wird: Kinder und Jugendliche, die sozial auffällig agieren.
Grundsätzlich besteht ein fachlicher Konsens: schwierige, verhaltensauffällige SchülerInnen sollen soweit als möglich inklusiv im Klassenverband (mit Unterstützungspersonal..) unterrichtet werden – das ermöglicht soziales Lernen nach beiden Seiten, auch die anderen Kinder profitieren. Aber es stellt die PädagogenInnen vor Herausforderungen!
Störendes Verhalten – Verhaltensauffälligkeit – pathologische Störung
Fallbeispiel Im Konferenzzimmer wird über Florian (8 Jahre) gesprochen: Er hat heute eine Mitschülerin in den Bauch geboxt, während der Deutsch-Stunde pausenlos gekichert und gestört, in der Pause zwei andere Burschen zu einer Rauferei angestachelt, hielt sich nicht an die Ermahnung der Gangaufsicht, usw. Zufällig kommt die Religionslehrerin dazu und berichtet, dass es auch in ihrer Stunde immer wieder Schwierigkeiten gibt. Nur in Musik scheint er sich ruhiger zu verhalten, der Musiklehrer ist ganz überrascht über die vielen Anekdoten, er kennt Florian ganz anders. Das Kollegium ist ratlos, wie weiter vorgegangen werden soll, um die Situation zu bessern.
Die Grenzen zwischen „alltäglichem“ störendem Verhalten – Verhaltensauffälligkeit – pathologischem Verhalten sind nicht klar zu ziehen, es kann jedoch von folgenden Richtlinien ausgegangen werden:
„alltägliches“ störendes Verhalten:
Verhaltensauffälligkeit:
Pathologisches Verhalten
Handlungsspielraum: Kompass zur sozialen Auffälligkeit
Sie als LeherIn können sich anhand von Leitfragen ein möglichst umfangreiches Bild der Situation machen. Dabei ist folgendes zu beachten: Trennung von Beobachtung und Interpretation; Wechselwirkung von Individuum und Umwelt bedenken; Verhaltensauffälligkeit als Ressourcen- und Kompetenzdefizit; was löst dieses Verhalten bei mir aus? (Emotionen, Erinnerungen, Sorge, Angst...) - dies spürt auch der/ die SchülerIn, es hat auch Auswirkungen in der Klasse, wie ich mich fühle.
Situationsbeschreibung
Analyse
Ressourcen und Fehlendes
Handlungsmöglichkeiten
An diesem Punkt sind konkrete Handlungsmöglichkeiten gefragt: Wer kann was beitragen, worauf hat die Schule, der Klassenvorstand, das LehrerInnenteam Einfluss? Gibt es Erfahrungswerte, auf die zurückgegriffen werden kann? Wo können wir uns Unterstützung holen? vgl. Kapitel Perspektiven im Krisenfall
Das Schreckgespenst Diagnose
Es gibt Schätzungen, dass ca. 20% aller Kinder und Jugendlichen unter psychiatrischen Störungen leiden: ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung), Autismus, Angststörungen, Depressionen, PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung)... um nur einige davon zu nennen. Diagnosen sind oft eine Erleicherung für Eltern und LehrerInnen, da sie gewisse Verhaltensweise erklären, dienen aber häufig auch als Festschreibung von Eigenschaften. Wichtig für PädagogInnen: Das Kind hinter der Diagnose sehen, und sich beraten und informieren lassen (Stützpersonal, BeratungslehrerInnen).
Auch hier gilt ganz allgemein: es gibt kein Patentrezept. Darum wird in diesem Rahmen auch keine „Schritt-für-Schritt Anleitung zur Inklusion verhaltensauffälliger SchülerInnen“ gegeben. Lesen Sie die weiteren Kapitel dieser Plattform und andere Literatur, besprechen Sie sich mit KollegInnen und Stützpersonal, machen Sie es sich zur gemeinsamen Aufgabe, mit schwierigen Situationen zurecht zu kommen.
Es gibt Situationen, wo Inklusion an ihre Grenzen stößt. Es gibt Situationen, in denen durch Gewalt ein Zusammenbleiben in der Klasse nur schwer möglich ist. Es gibt aber auch viele Situationen, in denen ein Kind, das „irgendwie“ stört, durch gemeinsame Anstrengungen in der Klasse verbleiben kann, und so die Chance zur persönlichen Weiterentwicklung erhält. Anstatt das Kind als „schwierig“ zu bezeichnen und es einfach nur aus der Klasse haben zu wollen, ist es hilfreich zu versuchen, die Situation als „schwierig“ anzuerkennen und zu überlegen, was alle brauchen, um die Situation zu verändern.